(Die folgende Rezension erschien 1996 und berichtet von 
einem Internet, das vor lauter Veränderung nicht mehr 
wiederzuerkennen sei. Was 10 Jahre später schon wieder 
witzig ist)

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Poetische Streifzüge im Netz
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Auf dem Höhepunkt der Internet-Euphorie scheinen die
literarischen Verlage demonstrieren zu wollen, daß das Netz
der Netze auch ihre Domäne einzuspinnen beginnt. Bei Rowohlt
ist im April eine deutsche Ausgabe von J. C. Herz' "Surfing
on the Internet" erschienen, eine Art Guided Tour durch die
Tiefen und Untiefen der Netzwelt und derer, die darin leben.
Zweitausendeins hat im Dezember Peter Glasers "24 Stunden im
21. Jahrhundert" herausgebracht. 

Herz' Text vermittelt etwas von der Atemlosigkeit der
Netztexte, sozusagen das Echtzeit-Gefühl. Herz, 23 Jahre
alt, studierte Juristin and praktizierende Journalistin,
schnoddert sich so durch ihre Netzerlebnisse. Sie berichtet,
was sie sieht, reflektiert ("es steckt eine gewisse
poetische Gerechtigkeit in der Tatsache, daß ein vom
US-Militär initiiertes Netz nun die Heimat einer Schar
virtueller Transvestiten ist"), schweift ab, und hält uns
ständig über den Inhalt ihres Kühlschranks auf dem
laufenden. Sie interviewt die stereotypen blassen Jungs, die
sie trifft; sie zitiert ausgiebig aus dem Material auf ihrem
Terminal. Herz darf das, weil man ihr abnimmt, daß sie
selbst dem Netz und seinen Versuchungen verfallen ist. Ihr
Interesse wirkt nicht voyeuristisch; ihre seitenlangen
Protokolle aus Online-Dialogen, Rollenspielen oder Net-News
haben nichts Schmarotzerisches an sich. Herz (er)lebt das
Netz und läßt uns dabei über die Schulter kucken. Wo sie
schlust (und der Übersetzer schlust leider geradezu
kongenial mit ihr und über das Original hinaus) paßt das
bestens zu der Atmosphäre, die sie erzeugt. 

Peter Glaser, hauptberuflicher Schriftsteller, unter dem
Pseudonym "poetronic" seit je eng mit der Hamburger
sogenannten "Hackerszene" verbunden, hat eine ganz andere
Art zu schreiben. Glaser ist ein Tüftler, ein Wortspieler,
zugleich ein scharfer Beobachter, ein ganz pointierter
Formulierer. Dabei hat er sich äußerlich eine ähnliche Form
wie Herz ausgesucht: Auch er nimmt uns mit auf eine
temporeiche Reise und gibt unterwegs, oft wie beiläufig, ein
paar Hintergrundinformationen zu den wichtigsten
Sehenswürdigkeiten. Sein Buch lebt von beiden Elementen zu
gleichen Teilen. poetronic, der "Hacker", hat viel zu sagen
über Netzkultur, Netzphilosophie, Netzpolitik. Glaser, der
Dichter, nutzt die Gelegenheit, ganz private kleine Stories
zu erzählen.

Das komische an beiden Büchern ist, daß sie von einem
Internet erzählen, das so bereits gar nicht mehr existiert.
Beiden Autoren gilt der Internet-Boom, dem ihre Bücher wohl
immerhin ihre Veröffentlichung verdanken, als schnöde
Kommerzialisierung, als eine Verflachung. Herz: "Der ehemals
versteckt liegende Ort wird von einer Welle schlecht
informierter Mainstreamer überschwemmt. Das Netz wird so
werden wie das Post-Grunge-Seattle." Beiden Büchern haftet
etwas ungeheuer Nostalgisches an. Das kann schnell gehen im
Internet.

Erschienen in: Neue Universal 9 (Mai 1996)